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Flüchtlingsbeauftragter Tippow: „Auf die Chancen schauen"
In auseinandertriftender Gesellschaft mit „Freude am aufrechten Gang Sauerteig sein"

Dr. Rainald Tippow

„Es ist ein wirkliches Problem, dass wir auf Probleme und nicht auf den Chancenaspekt schauen", sagte Rainald Tippow, der Flüchtlingsbeauftragte der Erzdiözese Wien, bei seinem Vortrag zum Thema „Wer ist mein Nächster" auf Einladung der AMG-Akademie (Actio Missionis Gaudio) am 12. Februar 2016 im Stift Heiligenkreuz.

„Es gibt einen Missbrauch des Christlichen, ein Wirtschaftssystem, wo das Gemeinwohlprinzip nicht mehr gilt"
60 Millionen Menschen seien weltweit gegenwärtig auf der Flucht. „90 Prozent davon sind Binnenflüchtlinge oder leben in der Nähe der Länder. Weniger als 2 Prozent von den Menschen, die auf der Flucht sind, kommen nach Europa", skizzierte Tippow. Dennoch fehle eine Europäische Asylpolitik und eine gerechte Aufteilung. „Für Europa ist das ökonomisch einfach zu schultern. 30 Prozent der Syrer die kommen, verfügen über einen höheren Bildungsabschluss", so Tippow.

Gleichzeitig erleben wir „einen Missbrauch des Christlichen. Das Abendland hat eine Wertegenese, ein Gottes- und Menschenbild entwickelt, das wesentlich unser Denken durchdrungen hat. Wir haben einen Gott der Freude hat am aufrechten Gang des Menschen; Wir haben Religionsfreiheit, Glaubensfreiheit", so der Flüchtlingsbeauftragte. Dennoch erleben wir „eine Privatisierung der Armutsbekämpfung, ein auseinandertriften zwischen dem was gemacht werden sollte und dem was gemacht wird. Es gibt einen Verdrängungswettbewerb auf den untersten Stufen. Wir lagern diese immer mehr in den sozialen Bereich aus. Wir erleben ein Wirtschaftssystem, wo das Gemeinwohlprinzip nicht mehr gilt", so Tippow.

Der Flüchtlingsbeauftragte wies auf eine gewaltige Solidarisierung der Gesellschaft hin: „Es gab in den letzten Jahrzehnten keine Notsituation, wo sich so viele Menschen engagiert haben. Viele haben den Sommerurlaub geopfert. Wir haben 150 Pfarren in der ED Wien, die zur Zeit Flüchtlinge untergebracht haben", so Tippow. Dazu gebe es „eine Verunsicherung, die absolut ernst zu nehmen" sei. Die große Politik strahle „große Ratlosigkeit aus. Es gibt ein gewaltiges Auseinandertriften der Gesellschaft, Freundschaften die zerbrechen, das lässt niemanden kalt; Und eine Salonfähigkeit des Vulgären, eine Brutalisierung der Gesellschaft", die zu über 500 Brandanschlägen in Deutschland im letzten Jahr führte, sagte Tippow.

"Wir würden keinen Cent Entwicklungshilfe brauchen ..."
„Die Flüchtlinge die zu uns kommen sind Botschafter". Bei ihrer Aufteilung „nach den Gewinnen von Waffenverkäufen müsste Deutschland 3, Frankreich, Großbritannien je 5, und die USA 20 Millionen Menschen aufnehmen", so Tippow. Er regte eine Diskussion über Arbeitsemigration an, da die jährliche Entwicklungshilfe 150 Milliarden Dollar betrage, das gesamte Anlagevermögen aus diesen Ländern hingegen das Sechsfache. Daher sagen Vertreter Kongos: "Wir würden keinen Cent Entwicklungshilfe brauchen, wenn jede chinesische, jede amerikanische Firma so viel an Steuern zahlen würden wie die Menschen im Kongo zahlen", erläuterte Tippow.

Der biblische Aspekt sei die „unmittelbare Begegnung mit Christus. Wenn ich einem Flüchtling begegne, weiß ich das ist Christus. Bei einer Hostie weiß ich nicht ist sie konsekriert", so Tippow. Wir würden zwar von der Kirche der Armen reden, doch „ist es eine Kirche für die Armen, eine, die auf die Ränder blickt", fragte er. Vom Jüdischen Gottesbild komme „das rechte Handeln vor dem rechten Glauben", weshalb die Sorge für „Witwen, Waisen und Fremde für Juden vorrangig" sei und „immer vor dem Kult" komme. Auch das Evangelium sehe uns „nicht als Volkskirche sondern als Sauerteig". Daher haben wir „nach langem erstmals wieder die Chance das zu tun". 2014 seien 25 % anerkannt worden, 2015 seien es voraussichtlich 40-50 %. Zwar könnten wir nicht alle Probleme lösen, es sei aber „ein Gebot der Klugheit, sich auch um diese Menschen zu kümmern, sie aufzunehmen", sagte Tippow.

Ein Syrer, der 45 000 Dollar für Schlepper bezahlte, fragte: „Warum kann ich nicht legal einreisen und es hier ausgeben". Die Genfer Konvention seit vom 2. Weltkrieg und Kalten Krieg geprägt. Estland habe 2015 8 Personen anerkannt. Ungarn brauche drei Stunden für ein Asylverfahren und das werde immer negativ entschieden. Bulgarien habe einen Zusammenbruch des Sozialsystems. „Wir brauchen eine politische Lösung. Wir haben einen Konkurs zentral christlicher Werte. Die Abmeldungen vom Religionsunterricht sind bei den Muslimen größer als bei den Katholiken", schloss Tippow. „Es ist beeindruckend, was sie uns in dieser Stunde gesagt haben", sagte einer ganz spontan. Nach der Beantwortung zahlreicher Fragen von HelferInnnen vor Ort wurden Beispiele einer „Kulturvermittlung by doing" aus dem Industrieviertel berichtet.
Fotos und Text Dr. Franz Vock

Dr. Rainald Tippow im Gespäch mit Pfr. Dr. Bernahrd Mucha


Ein Blick in die Teilnehmerrunde